Wolfgang Seiffert:

Was schert mich mein Geschwätz von gestern?

Heutige Festredner und ihre verdrängten Meinungen anno 1989

VORBEMERKUNG:
Ich erinner mich einer Diskussion am Samstag, den 21. Oktober 1989 in Frankfurt am Main, genauer: im Bürgerhaus Nieder-Erlenbach. Da diskutierten General G. Kießling, D. Kühn vom Gesamtdeutschen Institut, der stellvertretende "Welt"-Chefredakteur Enno von Loewenstern, Professor W. Seiffert und der SPD-Außenpolitiker Karsten D. Voigt über die neue Lage nach der Entmachtung Erich Honeckers. Ich war als politischer Freund und Chauffeur Voigts, mit dem ich anschließend noch in dessen Haus sprach, sowie als Interessent an Thema und Veranstalter mit dabei. Als E. v. Loewenstern prophezeite, daß bis Weihnachten "die Mauer" fallen und 1990 Deutschland wiedervereinigt werde, kam Empörung im Saal auf ("Hetzer"). Aber die angeblichen "kalten Krieger" von gestern sind die - heute gern wieder verdrängten - Rechtgehabthaber von heute. Dazu nachfolgend ein Beitrag des mir bestens bekannten Prof. Seiffert, der mir sein im Piper-Verlag erschienenes Buch "Das ganze Deutschland" schon vorab auf Druckfahnen zukommen ließ...
GÜNTER PLATZDASCH

Zehn Jahre nach dem Beschluß der aus den Wahlen vom 18. März 1990 hervorgegangenen Volkskammer der DDR, "den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung zum 3. Oktober 1990" zu erklären, um diesen Vorgang einmal in seiner nüchternen Amtssprache wörtlich zu zitieren, streiten sich die Politiker der verschiedensten Parteien noch immer darum, wer sich das Zustandekommen der deutschen Einheit auf seine Erfolgsbilanz buchen darf.

Dieser Streit bis hin zu der untergeordneten Frage, wer nun am zehnten Jahrestag die Festrede halten darf, hat letztlich seine ganz wesentliche Ursache darin, daß die politische Elite des wiedervereinigten Deutschlands bis heute nicht begriffen hat, warum es zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands kam und welche geringe bis unrühmliche Rolle sie selbst dabei gespielt hat. Wenn ich von der "politischen Elite des wiedervereinigten Deutschland" spreche – oder man könnte auch in Anlehnung an die französische Politologie von der "classe politique" reden –, so meine ich dies durchaus in gesamtdeutschem Sinn, also unter Einschluß jener politischen Kräfte, die in der damaligen DDR die Macht ausübten, wie jener, die dann in dem einsetzenden Prozeß der Krise und des Niedergangs der DDR politisch in Erscheinung traten. Denn der Prozeß, der zum Mauerfall und zur Einheit führte, war ein gesamtdeutscher und darüber hinaus internationaler, der nicht einmal in Deutschland/DDR begann. Vielmehr nahm er seinen Anfang in osteuropäischen Ländern wie Ungarn und Polen und der UdSSR, in denen sich Umwälzungsprozesse der dortigen Wirtschafts- und politischen Systeme zu vollziehen begannen, auf die deutsche Politiker in Deutschland (der damaligen Bundesrepublik wie der DDR) keine oder jeweils keine adäquaten Antworten hatten.

Angesichts der immer mehr zunehmenden Flüchtlingsströme aus der DDR über Ungarn, Tschechoslowakei, Polen in die damalige Bundesrepublik hielten die "westdeutschen" Politiker an ihrer bisherigen "Deutschlandpolitik" der Stabilisierung der DDR und die SED-Führung an "Reiseerleichterungen für DDR-Bürger gegen finanzielle Zugeständnisse Bonns" fest. Und die damalige UdSSR unter Gorbatschow hatte im Grunde keinerlei Strategie zur Lösung der drängenden Probleme, nachdem er die Breschnew-Doktrin, die Politbüros von Bukarest bis Berlin notfalls mit sowjetischen Truppen an der Macht zu halten, aufgekündigt hatte.

Die Realitäten aber sprachen schon Mitte 1989 eindeutig dafür – wie ich damals in einem ganzseitigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. August 1998 feststellen mußte – daß nur der Weg über den damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes, also der Beitritt der DDR, sprich die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands eine wirkliche Lösung bringen konnte. Damals habe ich mit vielen Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien gesprochen. So unterschiedlich ihre Positionen auch waren, in einem stimmten sie überein: am Status quo der Teilung Deutschlands dürfe nicht gerüttelt werden.

Eine wahrhafte Darstellung existiert bis heute nicht

Man könnte hier seitenlang die Positionen der Politiker damals zitieren; es genügt auf das Buch "Deutsche Irrtümer" von Jens Hacker zu verweisen, in dem sich alle diese Positionen von Kohl und Schröder, von Lambsdorff bis Lafontaine wiederfinden und die Politiker belegen, daß sie wenn nicht überhaupt Gegner der deutschen Wiedervereinigung, so doch nicht ihre Vorkämpfer waren. Gewiß: es gab auch einige andere, die die neuen Chancen sehr wohl sahen, so etwa der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der in einem Interview mit dem Spiegel damals erklärte: "Wenn ich Politiker wäre, würde ich jetzt die Wiedervereinigung machen". Ebenso eine Gruppe von Industriellen und Wissenschaftlern, die sich mit Wissen Herrhausens an Gorbatschow mit einem Memorandum wandten, in dem sie Grundsätze für eine Wiedervereinigung mit Zustimmung der UdSSR formulierten. Doch wegen des Zögerns Gorbatschows und der ablehnenden Haltung der damaligen Bundesregierung blieb diese Initiative nur eine "Episode", wie sie der russische Wissenschaftler Daschitschew nennt.

Es dürfte nicht zuletzt mit den damaligen Ereignissen zusammenhängen, wenn bis heute keine wahrheitsgetreue Darstellung der Vorgänge existiert, die damals zur Wiedervereinigung führten. Denn eine solche geschichtliche Aufarbeitung käme nicht umhin, auch die Haltung der Politiker damals so wiederzugeben, wie sie wirklich war. Schon gar nicht von den jetzt bekannten Festrednern zum 10. Jahrestag der Einheit ist dies zu erwarten.

Auch die Nachkommen der SED, die heutige PDS-Führung, hätten eigentlich allen Grund, auf einer eigenen Veranstaltung zum zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung in sich zu gehen. Der jetzige PDS-Ehrenvorsitzende Modrow übt in seinem jüngsten Buch – nicht zu Unrecht – heftig Kritik an Gorbatschow, der damals die DDR quasi verraten hätte. Doch die SED – in der Modrow einmal Bezirksvorsitzender in Dresden war, – wußte natürlich, was die nationale Einheit für die Menschen in der DDR bedeutete, und hätte die Möglichkeit gehabt, auf eine staatliche Einheit hinzuarbeiten, die den sozialen Besitzstand der DDR-Bürger bewahrt, die industrielle Struktur der DDR anders eingebracht hätte, als das dann mit Währungsunion und Treuhand-Privatisierung geschah. Doch davon war nichts zu spüren, so daß Mängel des Wiedervereinigungsprozesses, die von der PDS beklagt werden (und die es tatsächlich gibt), nicht zuletzt der SED/PDS selber zuzuschreiben sind. Ist es nicht ein trauriges Armutszeugnis, wenn der langjährige Geheimdienstchef und ZK-Mitglied der SED, Markus Wolf, in einem persönlichen Brief vom 30. August 1990 an mich schreibt: "…daß das von Ihnen mit Recht festgestellte Nichtbegreifen der nationalen Frage auch auf mich zutraf?"

Für die meisten Politiker ein unerwartetes Naturereignis

So ist denn die Chance der deutschen Wiedervereinigung für die Mehrheit der deutschen Politiker in Verkennung der Realitäten in Osteuropa, der Sowjetunion und der DDR zunächst hereingebrochen wie ein völlig unerwartetes Naturereignis. Die deutsche Vereinigung aber war vor allem ein Resultat bzw. die Rückwirkung der Umwälzungen in Osteuropa, die mit der Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich den Bürgerrechtsbewegungen in der DDR ebenso wie der Fluchtbewegung aus der DDR ungeheuren Auftrieb gaben und den zivilen Ungehorsam zur Massenbewegung steigerten.

Dies relativiert sowohl die verdienstvolle Rolle der Bürgerrechtsbewegung in der DDR wie die Gorbatschows und Kohls, die diese im Wiedervereinigungsprozeß spielten. Die Bürgerrechtsbewegung wäre ohne den hier skizzierten Hintergrund eine kleine Gruppierung ohne wirklichen Einfluß geblieben, hatte die "Machtfrage" nie gestellt und ist erst ganz am Schluß – von den Ereignissen fast überrumpelt – auch Verfechter des Ziels der Einheit geworden. Gorbatschow hat sein Hauptverdienst darin, daß er die Breschnew-Doktrin aufgab und damit der DDR die einzige Bestandsgarantie entzog, die sie wegen ihrer separatistischen Politik allein hatte. Der "Vater der deutschen Einheit" war er nicht. Kohls Verdienste aber – und sie sind deswegen nicht geringer – beschränken sich darauf, daß er auf den bereits in Richtung deutsche Einheit fahrenden Zug noch rechtzeitig aufsprang und ihn in Bahnen lenkte, die dann zum Zwei-plus-Vier-Vertrag führten.

Kein Anhänger der Einheit sitzt heute in der Regierung

Anklicken = vergrößern!Alle jene, die danebenstanden, den Dingen ihren Lauf ließen, oder gar ihnen entgegenzuwirken suchten und damit bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember 1990 ihre Quittung erhielten, empfanden dieses Ergebnis – zu Recht – als eine politische Niederlage. Nicht zuletzt auch deshalb, weil alle politischen Analysen aus der Zeit vor dem Sommer 1989 davon ausgingen, daß die CDU des Helmut Kohl die nächsten Bundestagswahlen verlieren würde.

Doch heute, zehn Jahre danach, haben diese politischen Kräfte – zumindest was die schon in der damaligen Bundesrepublik existierenden Parteien anbelangt – ihre politische Niederlage von 1990 (und eben das war für sie die deutsche Wiedervereinigung) überwunden. Heute stellen sie die Regierung in Deutschland, in der niemand mehr ist, der schon früher Anhänger der deutschen Einheit war. Niemand aus den beigetretenen Bundesländern ist Regierungsmitglied, gehört einem obersten Gericht, zum Beispiel dem Bundesverfassungsgericht an; niemand aus der politischen oder wissenschaftlichen Elite der DDR übt heute im gesamtdeutschen Staat auf Bundesebene eine führende Position aus; wohl aber besetzen Persönlichkeiten aus der alten Bundesrepublik die Posten von Ministerpräsidenten und andere einflußreiche Positionen in den neuen Bundesländern.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß eine Reise des Regierungschefs in die neuen Bundesländer den Eindruck einer "Expedition in ein unbekanntes Land" erweckt, wie Der Spiegel trefflich seinen Bericht über die Show des "Wessis" Schröder betitelte.

Natürlich sollte niemand die Illusion haben, die entstandene Situation ließe sich rückgängig machen. Doch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer und der Wiedergewinnung der staatlichen Einheit bedarf es mehr als der Begnadigung von zwei ehemaligen Mitgliedern des SED-Politbüros oder einer Kampagne gegen den Rechtsradikalismus.

Genau wie vor zehn Jahren bedarf es nicht kleiner Schritte, sondern einer Perspektive, die auch die jungen Menschen in den neuen Bundesländern hält und einen immer noch anhaltenden Abwanderungsstrom von dort in den Westen wenigstens stoppt, wenn nicht gar umkehrt. Eine solche Perspektive wird allein mit der Verlängerung des Solidaritätsbeitrages und anderen Fördermaßnahmen nicht erreichbar sein. Sie wird sich nur überzeugend einstellen, wenn man den Menschen in den neuen Ländern die Wahrheit sagt: daß ihre Situation nur wirklich besser wird, wenn sie sich selbst bewegen und wenn von den Führungspositionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft niemand ausgeschlossen bleibt, auch nicht die früheren Träger der SED-Herrschaft; es sei denn, sie hätten sich der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Zu einer solchen neuen Politik wird nur fähig sein, wer sich der Wahrheit darüber stellt, warum die Mauer fiel und die Einheit kam und welche Rolle er, seine Partei oder politische Gruppe damals in diesem Prozeß wirklich gespielt haben.


Prof. Dr. Wolfgang Seiffert (1926-2009), von dem dieser Beitrag stammt, war bis zu seiner Verurteilung durch den Bundesgerichtshof führender Funktionär der "Freien Deutschen Jugend" in der BRD. Er floh in die DDR. Dort leitete von 1967 bis 1978 das Institut für ausländisches Recht und war zeitweise Vizepräsident der Gesellschaft für Völkerrecht der DDR. Nach seiner Ausreise 1978 in die BRD verloren nicht nur etliche DDR-Jugendherbergen und sonstige DDR-Einrichtungen seinen "Ehrennamen" - Seiffert war ab 1978 einer der profiliertesten Vordenker der deutschen Wiedervereinigung und ihm eilte bei Insidern das Gerücht voraus, Emmisär des UdSSR-Geheimdienstes KGB zu sein. Ich hatte das Vergnügen, ihn in Frankfurt am Main persönlich kennenzulernen, dort saßen wir nebeneinander bei einem Kongreß, über dessen nationale Aspekte ich in einer Zeitschrift, in deren Redaktion der heutige Bundeskanzleramtschef wirkte, berichtete. Seiffert lehrte an der Universität Kiel, wo er bis 1984 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht war. Heute ist er  Generalsekretär des Zentrums für deutsches Recht im Institut für Staat und Recht der Russischen Wissenschaften und Schiedsrichter am Internationalen Kommerziellen Schiedsgericht der Kammer für Industrie und Handel in Moskau.